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Mit Lack bemalte Scham

Kleines Mädchen in Stöckelschuhen

Hinter dem Super-Frau-Schutzschild

Ein großes Schild trägt sie vor sich her: Ich bin erfolgreich. Ich bin super. Seht her, ich hab’s geschafft. Ich bin eine erfolgreiche Frau, steht da in bunten Lackfarben und großen Lettern.

Sie hat gelernt, alte Glaubenssätze aufzulösen. Sie arbeitet mit positiven Affirmationen. Jeden Tag umkleidet sie sich mit der eigenen Freundlichkeit.

Hinter dem Schild der Selbstoptimierung versteckt sich uralte Scham. Die existentielle Scham. Und die Angst, bloß gestellt und als Hochstaplerin entdeckt zu werden.

Die Geburt der Scham

Das Neugeborenen, das beim ersten Atemzug das „du bist nicht richtig“ inhaliert hat. Du bist Mädchen. Du wirst Frau. Du bist nicht das, was wir uns gewünscht haben, nicht das, worüber dein Vater am Stammtisch prahlen kann. Du bist falsch.

Oder du bist zur falschen Zeit an diesem Ort. Deine Eltern haben keine Zeit. Überfordert mit dem eigenen Leben, und nun bist du da. Und schreist. Hast Hunger. Stellst Ansprüche. Wir können nicht. Wir haben genug mit uns selbst zu tun. Gib Ruhe.

Kein Kontakt. Fehlende Zuneigung. Sich selbst überlassen im modrigen Kinderwagen.

Du bist stark. Du willst überleben. Und du weißt, du wirst überleben.

Fehlende Zuneigung der Eltern ist untragbar. Du brauchst deine Eltern, deshalb himmelst du sie an. Und du suchst die Schuld bei dir selbst. Du bist schlecht. Du bist falsch, nicht deine Eltern. Dein ganzes SEIN ist falsch.

Die Scham ist geboren. Scham hüllt dich ein, wie eine flauschige Windel wickelt sie sich um dich. Ich bin bei dir, du bist nicht allein, flüstert sie dir zu.

Auf der Suche nach Begründung

Sie wird dich begleiten, dein ganzes Leben. Wie eine zweite Haut. Du wirst Begründungen finden, immer wieder, immer neue Situationen wirst du dir kreieren, an denen du dich festhalten kannst. Weil du im Kindergarten in die Hose gemacht hast, weil du in Rechnen schlecht warst, weil dich deine Freundin ausgelacht hat, weil weil weil.

Du findest Erklärungen, an denen du deine Scham aufhängen kannst, wie an einem Haken an der Garderobe. Du gehst in Therapie. Du arbeitest Haken für Haken ab. Tauscht das Schämen gegen Stolz aus.

Du bastelst dein Schild, um allen zu zeigen, wie fleißig du bist: Seht nur, wie tüchtig ich bin! Ich bin erfolgreich. Ich bin großartig. Ich bin eine Karrierefrau!

Und gleichzeitig hast du Angst, als Hochstaplerin entdeckt zu werden. Hinter der Lackfassade ist sie noch immer, die dich umhüllende Scham, die ursprüngliche, die, die dir sagt, DU bist falsch. Das SEIN des kleinen Mädchens, des Neugeborenen in Frage stellend.

Seit Generationen

Das SEIN der Ahninnen in Frage stellend. Das Minderwertige der Frauen über Generationen. Eva die Sünderin, die Adam den Apfel gereicht. Schäm dich!

Dass Adam den blöden Apfel gegessen hat, bleibt unbedacht, Eva trägt die Schuld. Und sie erkannten, dass sie nackt waren. Pfui!

Rational kann ich seitenweise fabulieren, was ich in meinen 57 Jahren alles gleistet habe. Glaub mir, die Liste ist lang. Und wenn ich über die zu erwartende Pensionshöhe spreche, schäme ich mich. Selber schuld. Falsches gearbeitet, nicht für Pensionsansprüche. Dumm. Dumm. Dumm. Scham.

Ratio hält das lackbemalte Schild hoch und ich posaune so laut ich kann. Um die Scham zu verstecken.

Existentielle Scham

Die existentielle Scham sucht sich immer wieder Anlässe für die Beschämung. Doch keiner dieser Anlässe ist der Auslöser. Denn die existentielle Scham war vorher da und sie sucht sich eine Begründung. Auf der Suche nach Erlösung von der Scham, wird das eigene Idealbild poliert und stolz vor sich her getragen.

Existentielle Scham stellt das eigene SEIN in Frage. Schuldgefühle entstehen durch Handlung, Scham entsteht durch Sein.

Solcherart beschämte Menschen reihen die Bedürfnisse der anderen den eigenen vor. Von Anbeginn im Minderwert-Gefühl trachten sie, Wünsche und Ansprüche anderer gerecht zu werden und üben sich in Zurückhaltung: „Solange es dir gut geht, passt es für mich schon.“

Im Selbsterfahrungsprozess werden die Anlässe für die Beschämung Stück für Stück poliert, mit Selbstwert und positiven Affirmationen übermalt.

Was bleibt ist die existentielle Scham, die darunter liegt, und die Angst, jederzeit entdeckt zu werden.

Angst vor Sichtbarkeit. Imposter Syndrom.

Fehlende Bindung

Das Neugeborene ist auf die Erfüllung der zentralen Bedürfnisse durch die Eltern oder Betreuungspersonen angewiesen. Alleine ist es hilflos. Es braucht Fürsorge. Und es braucht Nähe und Zuwendung. Es muss sich in Sicherheit geborgen fühlen können.

Die Nichterfüllung der elementaren Bedürfnisse des Kinde bringt es in einen fatalen inneren Konflikt. Enttäuscht möchte es sich abwenden und zurück ziehen aber es muss die Bindung zur Betreuungsperson aufrecht halten, denn nur so kann es überleben. Das Kind tut alles, um diesen Spagat auszuhalten. Es unterdrückt das Bedürfnis nach Nähe und fühlt sich gleichzeitig verloren, die Angst vor Ablehnung zerfrisst es innerlich.

(vgl. Bindungstheorie nach John Bowlby und Mary Ainsworth. Einen interessanten Artikel darüber hat auch Laya Commenda geschrieben: Attachment Theory – und wie sie mir die Augen geöffnet hat – Laya Commenda )

Die Schuld für die Misere sucht das Kind bei sich selbst. Es schämt sich, weil Bedürfnisse da sind. Es wird aggressiv und schämt sich dafür. Die Eltern haben es schwer, weil ich da bin. Ich bin an allem schuld. Ich bin unfähig. Ich bin falsch.

Der Ausweg

Hinter deinem lackfarbenen Schild ist dein SEIN. Dein existentielles SEIN. Dein Du. Dein ursprüngliches Wesen. Behandle das Neugeborene behutsam, zärtlich. Gib ihm deine ganze Fürsorge.

Bring es ans Licht. Zeig ihm deine Welt. Deine zerknitterte, profane Welt. Zeig ihm dein Straucheln. Zeig ihm dein Lachen. Deine Peinlichkeit. Dein Unperfekt sein. Dein Hundertstes Mal Aufstehen. Zeig ihm deine Schönheit. Deine Grazie. Deine Kreativität. Deine Lebensfreude.

Löchrig ist der Boden. Setze deine Schritte mit Bedacht. Vorsichtig, denn du hast dein Unberührtes Sein in deiner Hand.

Zu groß der Schmerz

Erlaube die Wut. Zu erkennen, was dir als Kind gefehlt hat und was du kompensieren musstest, macht wütend. Du hast alles gegeben, um zu überleben. Das Kind muss nicht verstehen, was mit den Eltern war. Die Bedürfnisse des Kindes wurden nicht angemessen erfüllt, und das ist schlimm. Bleib dabei, sag deinem inneren Kind, dass das schlimm war.

Erst im zweiten Schritt kannst du als Erwachsene den Eltern vergeben. Sie hatten alles gegeben, was ihnen möglich war – wie alle Eltern ihre Kinder so lieben, wie es die Umstände erlauben. Nur die Erwachsene versteht das.

Manchmal sitzt der Schmerz tief vergraben. Dein System weiß das und es will dich schützen. Es erfordert Mut, sich in die Tiefen des eigenen Seins zu begeben. Und es ist wie beim Bergsteigen. Markierte Wege kann ich gut und gerne alleine gehen. Schwierige Routen besser in Gesellschaft. Wenn es zum Klettern ist oder über Gletscherspalten führt, macht es Sinn, eine professionelle Bergführerin zu engagieren.

Der lohnende Ausblick am Gipfel ist gleich und lohnt sich allemal!

Ach ja, und wenn wir dann schon am Gipfel sind, das lackbemalte Schild darfst du in die Weite schleudern. Du brauchst es nicht mehr. Die Scham hat sich in Wahrhaftigkeit transformiert.

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